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Reinhart im Interview: „Wir können nicht die Leistungsträger immer mehr belasten“

Die Steuereinnahmen sprudeln nicht mehr so stark wie erwartet. Wolfgang Reinhart fordert deshalb mehr Impulse, um die Innovationskraft des Landes zu erhalten. 
Quelle: Nils Mayer, Stuttgarter Nachrichten
Herr Reinhart, die Verhandlungen für den Doppelhaushalt 2020/2021 stehen an, und Finanzministerin Sitzmann (Grüne) mahnt zum Sparen. Wie bewerten Sie die Lage?
Die richtig fetten Jahre sind vorbei. Angesichts der korrigierten Zahlen beim Wirtschaftswachstum und der Mai-Steuerschätzung haben wir nicht mehr diese Zunahme bei den Einnahmen, die ursprünglich prognostiziert war. Die Situation ist aber nicht besorgniserregend. Im Gegensatz zu 2009, als wir einen Einbruch von minus 7,5 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt in Baden-Württemberg hatten, geht es nicht abwärts, sondern weiter aufwärts –wenn auch flacher.
Das schränkt aber die Spielräume ein.
Wir müssen unterscheiden zwischen Pflicht und Kür, zwischen Notwendigem und Wünschenswertem. Dieser Doppelhaushalt soll eine Roadmap für die Jahre 2020/2021 darstellen. Das verlangt politischen Gestaltungswillen, da ist die ganze Landesregierung in der Verantwortung, auch der Ministerpräsident. Die notwendige Debatte darf nicht durch pauschale Sparappelle unterbunden werden. So schlecht geht es uns eben nicht, dass anstelle von Gestaltung nur noch Verwaltung möglich wäre. Es kann nicht sein, dass die Kür der vergangenen Jahre die Pflicht der nächsten Jahre verhindert.
Was ist denn Pflicht, was Kür?
Wir haben uns an der Verfassung und an den hoheitlichen Aufgaben, die allein der Landespolitik übertragen sind, zu orientieren. Das bedeutet Investitionen in die Bildung, in die Sicherheit und in unsere Kommunen. Lehrer, Polizeibeamte, Finanzbeamte, Justizbedienstete, das ist Pflicht, das brauchen wir. Wir müssen aber auch in die Zukunft investieren. Wir müssen die Infrastruktur wie ÖPNV, Straßen, Brücken, Breitbandversorgung weiter voranbringen und das Ziel verfolgen, dass dieses Land seine Stärken behält mit den Weltmarktführern im ländlichen Raum. Wir müssen Innovationsregion Nummer eins bleiben unter den 111 Regionen in Europa. Das gelingt uns aber nur, wenn wir als Gesellschaft und Wirtschaft bereit sind, den technologischen Wandel anzunehmen und ihn positiv zu gestalten.
Das Volumen des Landeshaushalts hat sich binnen neun Jahren von 36 Milliarden auf nun 52 Milliarden Euro erhöht. Mehr als 40 Prozent davon sind Personalkosten. Ist es verantwortlich, ständig neue Stellen zu schaffen?
Wir hatten eine Dekade mit permanentem Wachstum. Das ist sehr erfreulich, schlägt sich aber auch in den Personalkosten nieder. Wir tragen Verantwortung für 250 000 Landesbedienstete und 130 000 Versorgungsempfänger. Wir haben jetzt die Vereinbarung getroffen, dass wir das Tarifergebnis auf Beamte übertragen. Daraus ergibt sich eine weitere strukturelle Steigerung der Personalkosten. Aber das Land muss in Zeiten niedrigster Arbeitslosigkeit auch schauen, dass es als Arbeitgeber attraktiv und wettbewerbsfähig bleibt. Wir haben den Haushalt trotzdem auch sorgsam wetterfest gemacht.
Inwiefern?
Man darf nicht übersehen: In den letzten drei Jahren ist die implizite und explizite Verschuldung um 6,5 Milliarden Euro reduziert worden. Zum ersten Mal seit 50 Jahren steigen wir herunter vom Schuldenberg. Es war wichtig und richtig, dass wir damals in der Föderalismus-Kommission II die Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben haben. Das hat einen Effekt erzielt. Das ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit und der Nachhaltigkeit. Ab 2020 darf nur noch so viel ausgegeben werden wie eingenommen wird, alles andere wäre verfassungswidrig.
Beim Bund sind die Sozialausgaben seit 2013 um fünf Prozentpunkte auf 57,3 Prozent des Gesamthaushalts gestiegen – trotz guter wirtschaftlicher Lage. Geht die Entwicklung nicht trotzdem in eine falsche Richtung?
Das muss uns in der Tat sorgenvoll stimmen. Für mich ist völlig klar: Wir können nicht mit dem sozialen Füllhorn durchs Land gehen und die Leistungsträger immer mehr belasten. Der normale, gut verdienende Facharbeiter ist mittlerweile sehr früh im Spitzensteuersatz angelangt. Die Steuer- und Abgabenbelastung ist im Vergleich der OECD-Staaten schon die zweithöchste nach Belgien. Die Einnahmen steigen, steigen, steigen. So hätte ich mir gewünscht, dass auch mal Entlastungen der Bürger ins Auge gefasst werden. Es wurde vor 30 Jahren versprochen, dass der Soli zeitlich befristet ist. Jetzt wollen einige für mehr soziale Wohltaten daran festhalten. Das finde ich falsch.
Sie plädieren also auch für weniger „Sozialklimbim“, wie es der CDU-Bundestagsabgeordnete Joachim Pfeiffer nannte?
Ich nenne es nicht „Sozialklimbim“, ich sehe aber zumindest eine teilweise fehlgeleitete Diskussion, in der es nur um zusätzliche soziale Leistungen und das Verteilen des Kuchens geht. Eine Grundrente ganz ohne Bedürftigkeitsprüfung, wie sie die SPD fordert, halte ich für indiskutabel. Diese konsumtiven Ausgaben belasten den Haushalt auf Dauer, damit betonieren wir uns ein und verlieren den Gestaltungsspielraum in schlechten Zeiten. Man muss endlich wieder mehr über das Backen des Kuchens sprechen. Mit der Transformation des Automobillandes steht uns eine riesige Herausforderung bevor. Das ist für mich ein Sorgenfaktor.
Was fürchten Sie?
Das ist ein Umbruch wie seit 100 Jahren nicht mehr. Wir sehen bereits jetzt erste Spuren und deutliche Auftragseinbrüche bei den Zulieferern. Wir müssen die Transformation klug begleiten, um die Pole-Position zu behalten, und dürfen im Wettbewerb der Zukunft nicht nur auf Elektromobilität setzen.
Was die Landesregierung aber stark macht.
China und Fernost haben hier einen schwer einholbaren Vorsprung, auch die vorhandenen Probleme wie Reichweite oder Ladesäulen-Infrastruktur sind längst nicht gelöst. Es muss bei uns auch darum gehen, synthetische Kraftstoffe, Wasserstoff, Brennstoffzelle nicht abzuschreiben – wo bereits mit Tankstellen eine Infrastruktur vorhanden wäre. Auch Erdgas wird mir zu wenig diskutiert. Wir brauchen einen klugen Mix.
Sind die goldenen Zeiten sonst vorbei?
Sehen Sie: Unsere Gesellschaft altert, und unser Wachstum ist ohnehin, was die volkswirtschaftliche Größe angeht im Verhältnis zu den bevölkerungsreichen und jüngeren Ländern wie Indien, Vietnam, Indonesien und auch Brasilien, nicht mehr in dieser Dynamik. Wir müssen deshalb schauen, wie wir bei Forschung und Entwicklung, etwa dem Zukunftsfeld Künstliche Intelligenz, investieren können, damit wir agil, innovativ und schnell bleiben. Das ist wie bei einem Ruderer auf einem Fluss: Wenn der vorübergehend die Ruder aus der Hand legt, verharrt er nicht im Stillstand – er wird abgetrieben. Und diese Gefahr sehe ich für Deutschland.
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